Die Lesesucht
Auch und vor allem die Jugend betreffend wurde das viele Lesen stark kritisiert. Beneken* argumentiert auf psychopathologischer Ebene. Seinen Beobachtungen nach sei die Jugend „verlohren — ohne Rettung verlohren.“ Weiterhin diagnostiziert er „unüberwindliche Trägkeit, Eckel und Widerwillen gegen jede reelle Arbeit […] ewige Zerstreuung und unaufhörliche Ratlosigkeit der Seele, die nie eine Wahrheit ganz fassen, nie einen Gedanken ganz fest halten kann.“ Dies seien die unvermeidlichen Folgen der Lesesucht.
*Georg Wilhelm Friedrich Beneken, frühes 19. Jhdt. https://de.wikipedia.org/wiki/Lesesucht
An Ostern gab die Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, ihre Pläne für Deutschlands Schulen bekannt. Gerade Tablets standen im Mittelpunkt ihrer Umbaupläne.
Die Resonanz auf ihre Äußerungen ließ nicht auf sich warten. Da dieses Thema unser iPad-Projekt direkt betraf, tauchte ich ab in die Kanalisation des Internet: Die Foren der Nachrichtenportale. Trete vor die Bühne der Besserwisser. Der schreienden Experten für alles. Dorthin, wo jeder seine zufällig irgendwann gebildete Meinung zu egal welchem Thema einfach mal rausrotzt, ohne sich mit den Details der jeweiligen Sachlage jemals ernsthaft beschäftigt zu haben.
Hier ein paar Anmerkungen zu den Meinungsäußerungen im Forum zum Beitrag der Welt.de zu diesem Thema.
Mir ist in all den Jahren noch kein Fall zu Ohren gekommen, in denen ein Tablet in der Schule beschädigt wurde.
Ein iPad in der Normalgröße ist nur unwesentlich kleiner als eine Schulbuchseite und hat den riesigen Vorteil, dass man Teile der Seite vergrößern kann.
Den Sonnenschutz gibt es bereits, er heißt Außenjalousie. Netzteile brauchen wir auch nicht, die Schüler kommen mit voll geladenen Geräten, die Akkus halten auch nach drei Jahren noch locker sieben Stunden oder mehr. Probleme mit leeren Akkus haben wir im Zeitalter der USB-Zusatzakkus praktisch keine. Weniger jedenfalls als mit vergessenen Heften in Papierklassen.
Einen Schulserver brauchen wir auch nicht, entscheidend ist allerdings leistungsfähiges W-LAN und ein schneller Internetzugang.

Doch, aktuell für 349,- Euro + 99,- Euro für einen Stift. Ja, auch die Microsoft- und Samsungstifte arbeiten sehr schön. Kosten auch ähnlich viel.
Updates gibt es bei Apple vier bis fünf Jahre lang. Das aktuelle iOS 11.3 läuft z.B. noch auf einem iPad Air von 2013.
Custom-ROM ist wohl irgendein Hack. Nix für mich, nix für uns in der Schule.
Akkus leben ziemlich lang, siehe oben. Laptop-Funktionen haben wir bisher nicht vermisst – ganz im Gegenteil: Die Tastatur-Maus-Zentrierung dieser Geräte verhindert eher den intuitiven Umgang mit den Inhalten.
Die Laptop-Tablet-Hybride (Convertibles) sind außerdem zu schwer und zu teuer für unsere Zwecke.
Ihre Enttäuschung mit dem iPad betrübt mich, sie stehen halt leider ziemlich alleine da.

Bei kurzfristigen Stromausfällen würde höchstens der Beamer ausfallen, die Tablets arbeiten mit Akkus. Bei längeren Stromausfällen (ein sehr theoretischer Fall!) hätten wir ganz andere Probleme.
Unsere Schüler reden, schreiben und rechnen übrigens auch ganz ohne Stromantrieb. Ihre Hände wirken nach einer flüchtigen Kontrolle während des Unterrichts augenscheinlich nicht verformt, systematisch überprüft habe ich das allerdings nicht.
Zum Optiker: In unserem Unterricht wird nicht stundenlang nur aufs Display gestarrt. Dass das Display schädlicher als Buch und Heft sein soll, ist wissenschaftlich nicht nachweisbar. Stundenlanges Sitzen ist sehr schlecht, war aber schon immer so. Alternative Vorschläge sind aber willkommen.
In unserer Schule wurden meines Wissens noch nie Schränke gebaut.

Der Punkt „Gewicht des Schulranzens“ hat sich nach vielen Elterngesprächen tatsächlich als wichtiger erwiesen, als wir Lehrer das so glaubten.
Die Entlastung der Schülerrücken ist bereits jetzt Realität: Das Tablet ersetzt einen ganzen Schwung von Haus- und Schulheften, den Atlas, Stifte, Tippex, Schere etc. Alleine die Stiftsammlung in OneNote würde kaum in einen ganzen Ranzen passen.
Die Erleichterung wird mit der neuen Lehrbuchgeneration noch deutlich spürbarer, die Bücher für den neuen G9-Lehrplan sind von den meisten Verlagen in ihren Apps digital verfügbar. Die jetzigen Fünfklässler in Bayern können demnächst auf noch erheblich leichtere Schulranzen hoffen.

Nein, „brauchen“ tun sie das nicht. Möglicherweise noch nicht mal zum Lernen. Vielleicht auch keine Tafel, kein Heft oder sogar keine Bücher – jeder lernt anders.
Lernen war immer „Schnick-Schnack“: Papier, Stift, Tafel, Tageslichtprojektor … Wir nennen das übrigens „Lernmittel“.
Mit Stift, Papier, Zirkel und Lineal arbeiten auch unsere Schüler und lesen „normale“ Bücher. In den Tabletklassen ab der Mittelstufe dann vielleicht etwas weniger mit Zirkeln in Papierbüchern.
Klassischer Whataboutism: Gibt’s nicht wichtigere Probleme? In den Schulen steht zur Zeit zurecht die Digitalisierung im Fokus, und darum kümmern wir uns. In unserem kleinen Bereich. Wie alle anderen Branchen in ihrem auch.
Unsere Mittelstufler kommen aus der Grundschule und gymnasialen Unterstufe und bringen Lesen/Schreiben/Rechnen bereits mit. Wir entwickeln diese Fertigkeiten dann weiter, auch mit digitalen Möglichkeiten.
Der Verweis auf Studien hat ohne Hintergrund (Wer? Wann? Wo? Methodik? Veröffentlichung? Rezeption? Finanzierung?) in Diskussionen keinerlei Relevanz.
Gerade Erarbeiten und Selbermachen ist mit unseren digitalen Infrastruktur in einem vorher nicht denkbaren Rahmen möglich geworden.
Mit „Hat es uns geschadet“ haben mir gegenüber schon ältere Herrschaften physische Gewalt in der Schule, also Tatzen, gerechtfertigt.
Mir ist bereits wiederholt aufgefallen, dass Menschen das Bildungssystem, in dem sie selbst großgeworden sind, im Nachhinein als das „allerbeste“ bezeichnen. Es hat ja schließlich so großartige Menschen wie sie selber hervorgebracht. Danach ging es bei jeder Umstellung und Neuerung nur noch bergab – alle immer blöder und die Standards immer niedriger. Und das seit hunderten von Jahren.
Kann man so sehen und sogar Geld damit machen: Manfred Spitzer (sehr lesenswerter Artikel übrigens!) lebt davon. Nur tut man unseren Kindern damit keinen Gefallen. Schade, Chance vertan.
Gefällt mir:
Like Wird geladen …