10 Jahre, 95 Artikel, 56.000 Aufrufe, fast 30.000 Besucher – das ist die Bilanz der zehn Jahre, in denen dieses Blog die Arbeit in unseren Tablet-Klassen am Chiemgau-Gymnasium begleitet.
Und dennoch ist jetzt ein guter Zeitpunkt, den Laden zuzumachen. Zunächst aber ein Überblick der wichtigsten Phasen unserer Tabletklassen.
Die Vorplanung ab Ende 2011 erforderte einiges an Innovationsgeist und Experimentierfreude, Elterninformationen, Vorgabe der Geräte, Einwahl der Siebtklässler im Zuge der Schulzweigwahl, Integration in den Stundenplan und einiges mehr. Das erste W-LAN an der Schule führte sogar zu einem erbosten Leserbrief in der Lokalzeitung à la „Das ChG verstrahle in unverantwortlicher Weise unsere Kinder“.
Eines der Ziele neben der organisatorisch enorm erleichterten Möglichkeit der Internetrecherche war von Anfang an die Bildschirmspiegelung auf den Beamer – alle Schülerinnen und Schüler konnten nun ihre Arbeitsergebnisse, Hausaufgaben oder Präsentationen vor der Klasse projizieren, und das Jahre vor der Einführung von Dokumentenkameras. Welche wir damals provisorisch auch schon simulierten, mit dem iPad abgelegt auf dem Tageslichtprojektor. Von Anfang an stand ebenfalls die Handschrift bzw. das Bearbeiten verschiedenster Inhalte mit den damals verfügbaren Tablet-Stiften mit der wabbeligen Gummispitze im Mittelpunkt, drei Jahren vor Erfindung des Apple Pencils. (Ja, Windows-Tablets waren in dieser Frage damals weit voraus, ansonsten mit ihrem Desktop-System für unsere Zwecke aber völlig unbrauchbar.)
Didaktisch waren wir in der ersten Phase noch relativ bescheiden nach dem Leitbild:
Mit einer jederzeit verfügbaren 1:1-Ausstattung werden digitale Werkzeuge so alltäglich wie Papier und Bleistift. Jetzt können didaktische Überlegungen und nicht die Verfügbarkeit darüber entscheiden, wann welche Hilfsmittel eingesetzt werden.
Prof. Dr. Beat Döbeli Honegger
Aus dem heutigen Blickwinkel mutet diese Aussage fast schon egoistisch lehrerzentriert an und war im Tagesgeschäft dann auch recht schnell überholt: Eine Tabletklasse ist eben mehr als ein Computerraum im Klassenzimmer.
Somit konnte jetzt Phase 2 starten, die Integration digitaler Medien in den Unterricht: Lernplattformen nutzen, interaktiv lernen, ausprobieren, recherchieren, kommunizieren, fotografieren, präsentieren, skizzieren, konstruieren und vieles mehr.
In dieser Phase sind wir hier im Blog immer noch.
Doch Phase 3 zeichnet sich in immer größerer Deutlichkeit ab. Es haben sich mit den digitalen Werkzeugen viele Dinge geändert, die es im Sinne unserer Kinder im Unterricht nötig machen, einmal grundsätzlich überdacht zu werden.
Wir folgen weiterhin dem Primat des klassischen Unterrichts. Sich also Wissen anzueignen (gerne auch entdeckend!), durch Wiederholung in den Kopf zu prügeln, in Leistungserhebungen isoliert und ohne Hilfsmittel zu reproduzieren. Und in der Realität so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Überprüft wird häufig nur die Fähigkeit, kurzfristig auswendig zu lernen. Wie ernüchternd es sich anfühlt, den gleichen Test unangekündigt eine Zeit später zu wiederholen und festzustellen, dass fast nichts mehr da ist, dass man sich hinsichtlich des Grundwissens fragt, ob die alle jahrelang beim Kreideholen waren …

Das gesamte Wissen der Menschheit ist inzwischen jederzeit verfügbar, auf dem Smartphone in der Hosentasche oder auf dem Schülertisch. Im Gegensatz zu noch vor zwanzig Jahren, wo bei fachlichen Fragen in allen Fächern mit großem Zeitaufwand in der Schul-/Stadtbücherei recherchiert werden musste. Oder man jemanden fragte und ihm glauben musste. Die Definition, was notwendig oder nützlich ist zu wissen, änderte sich bereits mit der Erfindung der Schrift (vorher musste man praktisch alles auswendig wissen), der Verfügbarkeit von Papier und später dem Buchdruck. Das Leitmedium jeder Epoche erforderte ein Umdenken im Gleichgewicht zwischen „Was muss ich wissen?“ und „Was kann ich wo mit welchem Aufwand nachschauen?“
Schule hatte zu allen Zeiten unter anderem die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen auf die Zukunft vorzubereiten. Mir scheint, wir werden gerade heute diesem Anspruch so wenig gerecht wie seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten mehr. Weil der technische, kulturelle und berufliche Umbruch so gewaltig ist, dass wir gar nicht mehr wissen, welche Berufe es in zehn, zwanzig, dreißig Jahren überhaupt geben wird. Welche verschwinden und vermutlich in gleicher Zahl dazukommen.
Die Kernfrage ist, wie wir darauf reagieren. Hier ein paar subjektive Schlussfolgerungen:
- „Orientierungswissen“ ist und bleibt die Basis unseres Zugangs zur Welt. Ich kann nicht sinnvoll googeln, wenn ich nicht weiß, wonach ich eigentlich suchen soll/kann. Ohne ein grundsätzliches Verständnis von chemischen Reaktionen, Evolution, Photosynthese, Plattentektonik, von Gleichungen mit Unbekannten, Koordinatensystemen, physikalischen Einheiten und ihrem Zusammenspiel, von geschichtlichen Epochen, Tonleitern und Harmonien, politischen Systemen und der strukturierten Wiedergabe von Gedanken – ohne all das hilft der schnellste Internetzugang und das neueste iPhone nicht.
- Es geht wie noch in den vergangenen Jahren gar nicht mehr um den Einsatz digitaler Gerätschaften – es geht um Schule und Wissen in einer digitalen Welt. „Du mit deinen Tablets – als ob die da alle besser lernen“ ist ein oft gehörter Einwand, der aber an der Kernfrage vorbeigeht, weil sie „besser lernen“ nicht definiert. Bessere Noten für besseres, kurzfristiges Auswendiglernen kann nicht mehr der Maßstab sein.
- Wir wissen nur wenig über die zukünftigen Anforderungen an unsere Schüler. Die Mitgestaltung einer Welt, die zweifellos digital sein wird, erfordert andere Kompetenzen als enzyklopädisches Wissen. Nämlich die Nutzung, Verarbeitung, Umformung und Neuzusammensetzung bereits vorhandenen Wissens. Auch das ist nicht neu in der Menschheitsgeschichte, wir bauen immer schon auf Vorhergehendem auf.
Die für die OECD und die KMK bislang schlüssigste Antwort auf all diese offenen Fragen des 21. Jahrhunderts ist das 4K-Modell des Lernens, das ich hier nicht in allen Aspekten erläutern will. Das können andere besser.
Und noch eine Abschlussbemerkung: Schülerinnen und Schüler lernen immer noch hauptsächlich für Prüfungen und gute Noten. Weil die Abschlussprüfung (hier: Abitur) das ganze Schulsystem, alle Lernziele, alle Formen der Leistungserhebungen von der Oberstufe bis in die fünfte Klasse runter und vielleicht schon vorher prägt. Also Auswendiglernen. Wenn man Lernen in der heutigen und zukünftigen Welt ernst nimmt, muss man genau da ansetzen. Nur neue Prüfungsformate werden wirklich was an der Situation ändern. Mehr dazu hat prüfungskultur.de zusammengestellt.
Die Kultusministerkonferenz (Link) hat die Notwendigkeit übrigens bereits erkannt, insbesondere Abschnitt 2.3.
Und um die Frage zu beantworten, warum hier jetzt Schluss ist: Weil ich meine Bemühungen verstärkt auf Phase 3 richten will, anstatt die Phase 2 hier tot zu reiten. Weil das Lernen im Zeitalter der Digitalität nicht mehr auf „Tabletklassen“ beschränkt sein sollte. Digitale Gerätschaften sind auch wegen Corona inzwischen flächendeckend verfügbar. Wir müssen jetzt nachdenken, was die nächsten Schritte sein sollen.
Wir werden in welcher Form auch immer dran bleiben.