Verfasst von: Gerhard Piezinger | 23. März 2015

Blick über den Tellerrand

Nun ist es offiziell: Die Tablet-Klasse kommt wieder! Wir haben in diesem Jahr definitiv genug Anmeldungen, um eine Klasse bilden zu können. Ich selber habe die letzten Wochen der Wartezeit auch dazu genutzt, um mal über den Tellerrand der iPad-Welt zu schauen, die ja häufig – zu Recht oder Unrecht – als abgeschirmt, geschlossen und überteuert gescholtenen wird.
Was empfiehlt man also jetzt Schülern und Eltern, die noch kein Gerät haben? Kaufberatungen zu Tablets gibt es viele, z.B. in der c’t, aber die spezifischen Anforderungen an Schulgeräte finden darin in der Regel kaum Beachtung. Als langjähriger Apple-Nutzer und auf der Basis unserer zweijährigen Erfahrung mit der iPad-Klasse habe ich also den Selbstversuch gewagt und mir ein billiges Windows-Tablet zugelegt (Odys Wintab 10, 179,- Euro). Ich benutze das Gerät jetzt seit etwa vier Wochen fast täglich im Arbeitsalltag und habe alle möglichen Sachen ausprobiert. Trotzdem ist das hier natürlich kein systematischer Vergleichstest, sondern eher eine Sammlung von subjektiven Eindrücken durch die „Lehrerbrille“.
Kann so ein Gerät mit einem – bei vergleichbarer Ausstattung – ziemlich genau doppelt so teuren iPad mithalten?
iPad vs Wintab
Zunächst mal ein paar Dinge, die mir bei dem Windows-Tablet sehr gut gefallen haben:
  • Die Systemoberfläche mit ihren Kacheln finde ich funktional und ästhetisch äußerst gelungen. Das Gruppieren der Apps, die „aktiven Kacheln“, die Wischgesten zum Wechseln und Beenden der Programme, das Ablegen von Links, Playlisten und Ordnern im Startmenü, das überraschend praktische Handling von zwei Apps nebeneinander, die wirklich cleveren Zusatz-Menüleisten (Wisch von unten), die für ein sehr aufgeräumtes Erscheinungsbild der Apps sorgen – an all das gewöhnt man sich schnell und dann flutschen die Arbeitsabläufe wie gewohnt.
  • Auf der Bildschirmtastatur sind Cursortasten! Da könnte sich Apple beim iPad mal was abschauen, dieses unsägliche Gefummel mit der Bildschirmlupe nervt.
  • Sämtliche Dateisysteme – die eingebaute SSD, OneDrive, Dropbox – sind sehr übersichtlich ins System integriert und stehen allen Apps zur Verfügung.
  • Man kann beliebige Schriftarten installieren! Das klappt beim iPad nur über Umwege.
  • Ein USB-Anschluss! Allerdings nur wirklich nützlich für Menschen, die noch Sticks benutzen – ich habe meine Arbeitsabläufe inzwischen fast vollständig ins Internet bzw. W-LAN (Synchronisation mit dem Hauptrechner zu Hause) verlagert.
  • Die Akkulaufzeit ist etwa die gleiche, ohne dass ich das jedoch gemessen hätte. Für einen Arbeitstag nach nächtlicher Aufladung reicht’s locker.
Nun ein paar Punkte, die einem als „Wechsler“ ziemlich auf die Nerven gehen können.
  • Liebe Hardware-Hersteller: Ein 16:10 Breitbildformat ist bei einem Tablet Unsinn. Im Querformat stiehlt es einem Platz in der Höhe, wo man ihn am meisten braucht (Inhalte gestalten), und im Hochformat wird alles viel zu eng (Webbrowser, Texte lesen, Bücher).
  • Das billige Display mit seiner geringen Auflösung reagiert oft zögerlich, so dass alleine das Herumschieben von Kacheln auf dem Startbildschirm mitunter zum Geduldsspiel wird. Auch das Schreiben mit einem Stylus geht viel hakeliger als vom iPad gewohnt, was natürlich am kapazitiven Bildschirm liegt – die vergleichbaren Surface Pros mit induktiven bzw. Hybrid-Displays sind da weit im Vorteil, auch gegenüber dem iPad.
  • Das Wintab ist (wegen des Plastikgehäuses?) nicht sehr verwindungssteif, was dazu führt, dass das Touch-Display „Phantomklicks“ erkennt, wenn man es einhändig hält.
  • Windows belegt sehr viel Speicherplatz für das System alleine. Der für den Nutzer tatsächlich verfügbare Speicherplatz ist bei einem 32GB Windows-Tablet mit einem 16GB iPad vergleichbar.
  • Der Desktop-Modus ist für eine Nutzung ohne Maus und Tastatur, wie wir sie in der schulischen Arbeit anstreben, mit den meisten Programmen kaum sinnvoll nutzbar. Auch beim Umschalten auf eine größere Darstellung sind die Bedienelemente viel zu klein und man tippt ständig irgendwo daneben. Bei den MS-Office-Programmen ist ein gewisses Bemühen um Tablet-Konformität erkennbar, für ein sinnvolles und flüssiges Arbeiten reicht es aber nicht. Da ist das (inzwischen kostenlose) Word fürs iPad schon um Jahre weiter.
  • Wenn man nicht auf die fummelige Desktop-Ansicht ausweichen will, sondern tabletgemäß mit Windows arbeiten möchte, dann fällt die Auswahl guter Apps äußerst mau aus. Arbeitsabläufe wie ein Arbeitsblatt (PDF) mit Stift zu beschreiben und abzuspeichern oder zu teilen sind nur mit Klimmzügen möglich.
  • Nicht nur die Auswahl von Apps ist für verwöhnte iPad-Nutzer sehr ernüchternd, auch deren Qualität lässt häufig zu wünschen übrig. Die Wikipedia-App benötigt die Hälfte des Bildschirms alleine für ihr Titelbild, sucht nur in der englischen Wikipedia und bietet gegenüber der Webseite mehr Nach- als Vorteile, andere Apps haben Schaltflächen in Chinesisch, eine Textverarbeitung („Metro Word“) geht nach einem „kumulativen Update“ von Windows gar nicht mehr, das Videoschnittprogramm („Power Director“ als iMovie-Ersatz) stellt beim Export eines weichen Übergangs das Bild auf den Kopf, Google Earth (nur im Desktop-Modus verfügbar) unterstützt kein Multitouch.
  • Der Internet Explorer (der einzige Browser, der als App verfügbar ist!) hat seine Adress- und Favoritenzeile unten (?!) und blockiert regelmäßig im Bearbeiten-Modus von Mebis/Moodle. Außerdem ist der Seitenaufbau nach dem Klick auf die Zurück-Schaltfläche oft wirklich elend langsam.
  • Das Wintab kann tatsächlich nur über das mitgelieferte Ladegerät, nicht allerdings über USB aufgeladen werden. Der Stecker wackelt in der Buchse wie ein Kuhschwanz.
  • Die Anbindung an den WebDAV-Speicherplatz auf dem Schulserver, der in der Tablet-Klasse dann eine Art Cloud-Ersatz darstellen soll, ist mir bisher noch mit keiner App geglückt. Mit dem iPad war das eine Sache von Sekunden.
Mein Fazit im Augenblick: Zum Preis eines Fiat Uno gibt’s keinen 5er BMW. In jeder Produktkategorie des Alltags, von Waschmaschinen zu Lebensmitteln, von Fahrrädern zu Fernreisen, wird es immer Anbieter geben, die ein Produkt billiger verkaufen (siehe Ruskins Gesetz). An irgendeiner Stelle muss dann aber gespart werden. Sicher nicht an den werbewirksamen technischen Eckdaten, an denen sich Käufer beim Vergleich zunächst orientieren – Prozessor und Speicher in diesem Fall. Details wie die gruselig schlechte Kamera, die fast schon unbrauchbar schlechte Schutzhülle (19,- Euro), das praktisch nicht-existente Zubehörangebot – all dies wird einem erst später lästig.
Dass sich Windows 8.1 durchaus als Tabletsystem für die schulische Arbeit eignet, wenn Microsoft den Appstore mal auf Vordermann bringt, steht für mich außer Zweifel. Will man in der Windows-Welt ein vergleichbares Gegenstück zu einem iPad, befindet man sich aber in der gleichen Preisregion. Möglicherweise werden mit dem Erscheinen von Windows 10 im Sommer die Karten ja wieder völlig neu gemischt.
Über Ihre/eure Fragen und Ergänzungen in den Kommentaren würde ich mich freuen!

Antworten

  1. WOW, super interessant dein Vergleich! Voll professionell, Danke für diese Infos 🙂


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